spanisches Drama des goldenen Zeitalters

spanisches Drama des goldenen Zeitalters
spanisches Drama des goldenen Zeitalters
 
Ein erstes Zeichen zum Aufbruch ins »goldene Zeitalter« setzte 1499 die »Tragikomödie von Calisto und Melibea«, genannt die »Celestina«, deren 21 Akte umfassende Version von 1502 heute als die authentische angesehen wird. Sie stammt in ihren wesentlichen Teilen von Fernando de Rojas und dürfte ihre Entstehung der unmittelbaren Nähe zu humanistischen Zirkeln der Universität Salamanca verdanken. Erzählt wird die Geschichte Calistos, der Melibea in heftiger sinnlicher Leidenschaft begehrt, von ihr jedoch zunächst abgewiesen wird. Auf den Rat eines Dieners wendet er sich an Celestina, die alte Kupplerin, Magierin, Engelmacherin, die trotz ihres niederen Standes hohes Ansehen genießt. Ihr gelingt es, mit Überredungsgabe und dämonischem Zauber, Melibeas Liebe zu Calisto zu erwecken. Für kurze Zeit geben sich die Liebenden weltentrückt ihrer intensiven Zuneigung hin, kurz danach stürzt Calisto von einer Leiter und findet den Tod. Melibea nimmt sich in auswegloser Verzweiflung durch den Sprung von einem Turm das Leben. Diese Haupthandlung wird von Nebenhandlungen - etwa der Ermordung Celestinas - auf der Ebene der Diener und Prostituierten begleitet. Das von einem bodenlosen Pessimismus erfüllte Werk mit seiner vordergründig lehrhaften Absicht bündelt wie in einem Brennpunkt vergehendes Mittelalter und beginnende Renaissance. Dies gilt nicht nur für die Darstellung einer Gesellschaft im Umbruch vom feudalen zum frühkapitalistischen Denken, sondern auch für die gelehrte und belesene Auseinandersetzung mit zentralen Themen der mittelalterlichen Geistigkeit wie Liebe, Tod und Walten der Fortuna. Melibea dagegen kennzeichnet eine individuelle Bewusstheit und Entwicklungsfähigkeit, die den Geist der Moderne atmet. Das Stück hat die literarische Szene nicht nur Spaniens ungemein angeregt und wird bis in unsere Zeit immer wieder in Neuinszenierungen aufgeführt.
 
Mit dem »Vater des spanischen Theaters«, Juan del Encina, und Lucas Fernández, die beide am Hof des Herzogs von Alba wirkten, mit Gil Vicente, der seinerseits zugleich auch am Beginn des portugiesischen Nationaltheaters steht, und Bartolomé de Torres Naharro setzte sich bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Autoren die Entwicklung einer eigenständigen dramatischen Kunst in Spanien machtvoll und eindringlich fort. Dabei griff man ebenso auf antike wie zeitgenössische humanistische Vorbilder zurück, inspirierte sich an spezifischen nationalen Traditionen und Volksweisheiten und entdeckte Reiz und Effekt jener Charakterisierungsmöglichkeiten, die in der gezielten Verwendung von Dialektformen liegen.
 
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden vermehrt volkstümliche religiöse Spiele aufgeführt, erste spanische Schauspieltruppen gebildet und verstärkt das neulateinische Theater an den Universitäten gepflegt. Begleitet wurden diese Entwicklungen von gravierenden Veränderungen des politischen, sozialen und kulturellen Klimas, das in unterschiedlicher Weise von Gegenreformation und mystischer Sehnsucht nach Einswerdung mit Gott, von Expansion und Konsolidierung der spanischen Macht in der Neuen Welt und europäischer Eingrenzung des spanischen Hegemoniestrebens mit dem Untergang der Armada geprägt wurde. Auf die Offenheit des humanistischen Denkens folgte eine Epoche religiöser Gängelung und geistiger Reglementierung, in der allein die Künste bei aller Orthodoxie noch jene Freiräume der Fantasie sicherten, die der Einzelne zum Überleben benötigte.
 
Lope Félix de Vega Carpio stellte im Bereich des Dramas entsprechende Freiräume in einzigartiger Weise bereit. Seine schriftstellerische Fruchtbarkeit war ungeheuer. Er glänzte in allen literarischen Gattungen, aber die Zahl seiner Theaterstücke, seiner »Comedias« und geistlichen Spiele, ist schlichtweg unvorstellbar: Ein Zeitgenosse spricht von 1800 »Comedias« und 400 »Autos sacramentales«, die heutige Forschung schreibt ihm immerhin noch 800 Stücke zu. Diese Produktivität ist vor allem Zeichen seines poetischen Genies, seiner leidenschaftlichen, von irdischen Wünschen und himmlischen Zerknirschungen geprägten Persönlichkeit. Auch war der Bedarf der Bühnen gewaltig, da ein Schauspiel im Durchschnitt nur dreimal hintereinander aufgeführt wurde; Schätzungen gehen von einer Gesamtzahl von 10 000 Comedias und 1000 Autos sacramentales aus, allein für das 17. Jahrhundert.
 
Lopes Theater besteht aus historischen Schauspielen und Mantel-und-Degen-Stücken, arkadischen, mythologischen und religiösen Spielen. Sein literarischer Kosmos erfasst und verwandelt die Welten der Bibel und der Heiligenlegenden, Boccaccios, Bandellos und Ariostos, der mittelalterlichen spanischen. Chroniken, der Romanzen und nicht zuletzt der »Celestina«. Die großen Gefühle prägen sein Werk: Liebe, Stolz und Eifersucht, Ehre, Tapferkeit und Todesmut; immer setzt er auf den Sieg des Guten über das Böse. Er ist ironisch, humorvoll und witzig und ein feiner Psychologe gerade auch bei der Beschreibung der weiblichen Seele. Doch immer haben die Natürlichkeit des szenischen Ablaufs, die schlüssige Verwicklung der Handlung und ihre Auflösung den Vorrang für ihn vor den literarischen Theorien. Sein Theater ist ein Volkstheater, das sein Publikum gut unterhalten will, gespielt in der einfachen Umgebung der »Corrales« (= Innenhöfe), die vom Zuschauer eine nicht minder intensive Fähigkeit zum Zuhören verlangt, um sich alle Szenarien und Ereignisse, ob düster, ob heiter, ob spannend, ob retardierend, in der Fantasie ausmalen zu können.
 
Ganz anders dagegen sind Werk und Wirkungskreis Pedro Calderón de la Barcas: Der aus altem Adel stammende, jesuitisch erzogene Autor wurde 1635 von Philipp IV. zum Hofdramatiker und Leiter des königlichen Schlosstheaters ernannt. Damit stand seinen Stücken ein bestens ausgestatteter, von Wunder simulierenden Bühnenmaschinen unterstützter Prunk zur Verfügung, der ihnen den Charakter eines Gesamtkunstwerkes verlieh. Wie Lope holte auch er sich seine Themen aus Geschichte und Mythos, aus Moral und Religion, verschmolz dabei vielfach antikes und christliches Denken. Seinem fest gefügten, um die Begriffe Willensfreiheit, Schuld und Gnade zentrierten katholischen Weltbild entsprechend, inszenierte er jedoch mit zwingender dramatischer Folgerichtigkeit feierliche Zeremonien der Lehrhaftigkeit, herrische Allegorien zum Nachweis der Eitelkeit allen menschlichen Tuns. Alles ist Täuschung, das Leben ein Traum, die Welt ein großes Theater, eine Bühne, auf der Gestalten nach den Regieanweisungen Gottes Wirklichkeit spielen. Sie kennen keine Entwicklung, sondern nur jähe, allein aus der christlichen Wundervorstellung herleitbare Wandlungen. Ihr freier Wille verpflichtet sie zu Entscheidungen, die auch zum Bösen führen können. Aber jede Verletzung der göttlichen Ordnung wird unnachsichtig geahndet. Alles Wirkliche ist so fantastisch, wie alles Fantastische wirklich ist. Die hohe Künstlichkeit seines Werkes, die abweisende Strenge seines religiös begründeten Ehrbegriffs und die Konsequenz seiner rationalen gegenreformatorischen Glaubensvorstellung erschweren den Zugang zu diesem Dramatiker, der nicht zuletzt durch seinen ingeniösen Umgang mit der Sprache wie eine Verkörperung der barocken Seele Spaniens erscheint.
 
Mit dem Tod Caldérons geht auch das »goldene Zeitalter« zu Ende. Goethe, die Brüder Schlegel, Eichendorff und Hofmannsthal haben sich in unterschiedlicher Weise darum bemüht, sein Werk im deutschen Sprachraum heimisch zu machen.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Auf mehrere Bände berechnet. Stuttgart u. a. 1993ff.
 Schöne, Albrecht: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 31993.
 
Spanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans-Jörg Neuschäfer. Stuttgart u. a. 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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